Wandertagebuch Juli und August 2023

Woche 10,5 und 11: Irun-Bilbao: Das Camino-Trio

In Irun liegen ca. 15km mit knackigen Anstiegen vor mir. Es gilt den Berg Jaizkibel zu überwinden. Nachdem ich die Kirche Santa Maria de Guadeloupe passiert habe, wird der Anstieg steil und der Weg steinig. Es ist, als würde ich auf einen Dreckhaufen krabbeln. Als ich dieses anstrengende Stück geschafft habe, kann ich sehen, was mich auf dem Küstenweg erwarten wird: Ich sehe die Küste und den Golf von Biskaya. Dann erreiche ich den höchsten Punkt des Jaizkibel. Noch ein Blick zurück auf den Weg und damit auf die vergangenen Tage, dann der Abstieg.

Blick vom Jaizkibel auf die Städte Hendaye und Hondaribia. Im Hintergrund die Pyrenäen.


Der Abstieg vom Berg Jaizkibel ist steinig und nicht weniger anstrengend. Mein Ziel für diesen Tag ist der kleine Fischerort Pasajes Don Juan. Es gibt dort nur eine kleine Herberge. Zum Glück gibt es dort ein freies Bett für mich. Völlig erledigt komme ich in der Herberge an. Ich brauche meine ganze Kraft, um mein Bett zu machen, meine Sachen auszupacken und zu duschen. Nach dem Duschen sind Dehnen und Massage dran. In der Herberge sind auch Daniel und Miriam aus Deutschland. Es schön, mal wieder Deutsch zu reden. Daniel halten den üblichen Pilger-Small Talk. Währenddessen massiere ich mein Bein und mache Dehnungsübungen. Es stellt sich heraus, dass Daniel Fußmassagen gelernt hat und er massiert meinen Fuß. Außerdem ist er Yogalehrer. Er zeigt mir die „Liegende Taube“ – eine Übung, die alles auf einmal dehnt. Der Jakobsweg hat mir hier eine Person geschickt, die mir genau die Hilfe gibt, die ich brauche.

Am nächsten Morgen fragt mich Miriam, ob ich noch mit frühstücken gehe. Daniel, Miriam und ich suchen eine Bar in dem noch schlafenden Dorf. Nach dem Frühstück brechen wir gemeinsam auf. Pasajes Don Juan liegt an einer Art Fjord. Mit einem kleinen Boot kommt man auf die andere Seite. Dort suchen wir das Muschelsymbol und gehen los. Ich frage mich, wann sich unsere Wege trennen werden. Doch Daniel und Miriam passen sich meinem gemächlichen Tempo an. Wir plaudern viel und ich genieße ihre Gesellschaft. Aber jeder geht seinen eigenen Weg und so sind die meisten Begegnungen auf dem Jakobsweg eher flüchtig.

Nach einem Anstieg kommen wir zu einer Weggabelung an der eine Entscheidung zu treffen ist: Ein längerer Weg geht direkt an der Küste entlang, ein kürzerer führt durch den Wald. Wir entscheiden uns für die kürzere Variante durch den Wald. Dieser ist eine Art Bambuswald und wahrscheinlich ebenso sehenswert wie die Küstenvariante. Wir kommen zu einem schönen Café, das von der Sekte der "Zwölf Stämme" geführt wird. Während unserer Pause kommen wir mit den Mitgliedern der Sekte ins Gespräch. Sie erzählen uns, dass sie ein paar Kilometer weiter ein Haus haben, in dem wir auf Spendenbasis übernachten können. Wo genau es ist und wie weit es ist, können wir nicht erfahren. Uns wird gesagt, dass es direkt am Weg liegt und nicht zu verfehlen ist. Wir sollten Ausschau halten nach einem Haus, vor dem glückliche Pilger sitzen und eine gute Zeit haben. Daniel, Miriam und ich sehen uns an und es sieht aus als, wäre es beschlossen, dass wir dort übernachten. 

Diese Etappe führt uns durch San Sebastian, der Tapas-Hauptstadt Spaniens. Für unser Mittagessen gehen wir in eine Tapas-Bar. Der Weg führt uns dann weiter entlang der Strandpromenade von San Sebastian.

Dort liegt San Sebastian...
...mit vielen leckeren Tapas


Der Weg zieht sich in die Länge. Wir halten Ausschau nach glücklichen Pilgern und können weit und breit keine entdecken - außer uns. Nach 21km finden wir endlich das Haus der Sekte und kommen dort unter. Als wir zum Essen gehen, hat dort gerade die abendliche Versammlung stattgefunden. Die Männer tragen karrierte Hemden und eine Art Stirnband. Beim gemeinsamen Essen mit den Sektenmitgliedern erklären sie uns, wie ihre Gemeinschaft funktioniert: Jeder gibt seinen Besitz an die Gemeinschaft ab und stellt ihr seine Arbeitskraft zur Verfügung. Was dem Wohl aller dient, dient letztendlich auch dem Wohl des einzelnen.
Die Rekrutierungsstrategie der Zwölf Stämme ist sehr clever. Am Jakobsweg finden sie Menschen, die oft in Umbruchssituationen sind, die etwas suchen oder etwas hinter sich lassen möchten. Sie sind tendenziell offen für die Dinge, die der Weg ihnen bringt. Die Zwölf Stämme bieten Unterkünfte auf Spendenbasis. Das bedeutet, dass es keine festgelegten Preise gibt, sondern dass jeder einen angemessenen Betrag für Unterkunft, Essen, Strom, Wasser etc. Gibt. Das ist für viele Pilger interessant. Pilger zu bewirten und zu beherbergen bedeutet für die Sekte, ins Gespräch mit ihnen zu kommen.

Am folgenden Tag wollen Daniel und Miriam eigentlich bis nach Zumaia gehen, was ca. 25 km wären. Ich aber habe bereits am Vortag mein Kilometerkontingent ausgeschöpft und möchte mein Glück nicht auf die Probe stellen. Nach 15 km sage ich ihnen, dass ich nicht bis nach Zumaia laufen kann und erwarte eigentlich, dass sie sich nun von mir verabschieden werden. Stattdessen überraschen sie mich: Wir beraten uns darüber, ob wir in Getaria bleiben oder bis nach Askizu gehen. Die beiden haben anscheinend nicht vor, ihren Weg ohne mich fortzusetzen. Nach all den Menschen, die ich in den letzten zweieinhalb Monaten an mir vorbeiziehen sehen habe, sind hier zwei, die nicht einfach nur ihr "Ding" machen. Sie schätzen die Gemeinschaft mehr als das Vorankommen, Strecke machen und Leistung. Ich freue mich sehr, dass wir weiter gemeinsam gehen.

Auf dem Küstenweg kommt man oft an tollen Stränden vorbei.


Die folgende Etappe führt uns nach Deba und ist genauso hart, wie sie schön ist. Es geht mehrmals steil bergauf und es ist heiß an diesem Tag. Dabei haben wir atemberaubende Ausblicke auf die Steilküste. Der viele Regen macht die Küste grün und so erinnert die Landschaft zum Teil an grüne irische Hügel. In einer der Buchten, die wir passieren, finden Miriam und ich fossile Abdrücke in den Steinen. Darunter sind Pflanzen, Muscheln und ich glaube sogar einen Fischabdruck zu sehen.

Auf dem Weg nach Deba. Die Etappe ist anstrengend, aber jeden Schweißtropfen wert.


Ich bemerke ein unangenehmes Scheuern unter beiden Füßen. Wenn ich mich nicht gleich darum kümmere, kann das zu einer Blase werden. So halten wir an einer wirklich ungünstigen Stelle an. Ich setze mich mitten auf den Weg, ziehe Schuhe und Socken aus und finde Druckstellen. Daniel klebt sie ab und Miriam gibt mir Feinstrümpfe, die ich unter meinen Socken anziehe. Durch das unverzügliche Reagieren vermeide ich Blasen. Nachdem ich in der Schweiz mal eine Woche lang mit Blasen und immer neuen Blasen gelaufen bin, achte ich sehr darauf, dass sich das nicht wiederholt. Blasen sind echte Spaßbremsen. Ich stoppe lieber sofort, auch wenn der Ort und der Zeitpunkt ungünstig sind und kümmere mich darum.  Als meine Füße versorgt sind, hilft mir Daniel beim Aufstehen. Er reicht mir die Hand und sagt: "Du wirst nie alleine gehen".

Die Herberge befindet sich im umgebauten Bahnhofsgebäude und sehr groß. In unserem Schlafsaal haben ca. 30 Menschen in Doppelstockbetten Platz. Daniel und ich gehen noch an den Strand. Nach dem anstrengenden Marsch bergauf und bergab durch die Hitze tut das Meerwasser und die leichte Brise gut.

Unser Camino-Trio löst sich an meinem Geburtstag in Bilbao auflöst. Die beiden bescheren mir ein schönes Geburtstagsfrühstück mit Süßigkeiten und Kerzen. Dann verabschieden wir uns. Die Tage mit Daniel und Mirian waren entspannt und harmonisch. Bevor ich die beiden getroffen habe, dachte ich eigentlich, dass mein Jakobsweg kaum noch besser werden könnte nach all den schönen Erlebnissen und Begegnungen der letzten Wochen. Aber nein, das Universum hat noch eins drauf gesetzt.

Woche 12: Bilbao-Villaviciosa: Kurzer Prozess

Es ist eigenartig, ohne Daniel und Miriam weiter zu gehen. Die Tage mit ihnen waren wunderbar. Es dauert ein paar Tage bis ich mich an ihre Abwesenheit gewöhne.
In Bilbao endet das Baskenland und es beginnt die Region Kantabrien. Meistens verläuft der Weg neben Landstraßen. Ab und zu bekommt man mal schöne Ausblicke auf die Küste, aber nicht so viele, dass es sich lohnen würde, so viel an Straßen entlang zu laufen. Zudem tut mir der Asphalt in den Füßen weh. So mache ich kurzen Prozess mit diesem Abschnitt und überspringe einiges mit dem Bus. Mir wird die Zeit knapp und ich möchte die kostbare Zeit nicht damit vertrödeln, neben Autobahnen her zu laufen und mir auf dem harten Asphalt meine Fußverletzung zu verschlimmern.
Es gibt durchaus Schönes auf dieser Etappe, aber insgesamt gönnt mir der Jakobsweg hier eine Pause von magischen Begegnungen und atemberaubenden Landschaften.

Asphalt, Landstraßen und Autobahnen sehe ich auf dem kantabrischen Teil des Jakobswegs zu oft.


Dabei gibt es durchaus auch Schönes zu sehen.


Abendessen in netter Runde in einer Herberge bei Villaviciosa. In Frankreich kann man sich in Herbergen auf ein ausgedehntes gemeinsames Abendessen einstellen. In Spanien kommt das selten vor und geht in der Regel ganz fix.


Woche 13: Villaviciosa-Grandas de Salime: Endlich auf dem Primitivo!
Den Abschnitt bis Villaviciosa habe also irgendwie hinter mich gebracht. Von Villaviciosa aus sind es noch ca. 373 km bis nach Santiago. Das ist noch eine Strecke zu gehen, aber das meiste liegt hinter mir. Mein Fuß braucht noch viel Aufmerksamkeit, aber ich kann inzwischen über 20km pro Tag gehen und er macht mit. Ich beginne auch zu glauben, dass ich tatsächlich in Santiago ankommen werde. Meine Reise nimmt immer mehr die Form an, die ich mir gewünscht habe. Mit den größeren Etappen fühle ich mehr Freiheit und Flexibilität.

Zunächst geht es nach Oviedo. Oviedo ist eine sehr angenehme Stadt. Lebendig, mit Flair und vielen Bars, Cafés und Restaurants und dabei entspannt. Es ist auch der Ausgangspunkt für den Camino Primitivo. Hier liegt ein neuer Abschnitt vor mir und ich freue mich darauf. Man sagt, er sei einer der ursprünglichsten Jakobswege und auch einer der anstrengendsten.

Ich bin an diesem Tag sehr müde. Zu lange habe ich keinen Pausentag gemacht. In Oviedo möchte ich aber nicht bleiben. Die öffentliche Herberge ist eher zweckmäßig und kein Ort, an dem man gern mal einen faulen Tag einlegt. Ich nehme mir vor, Ausschau zu halten nach einem Ort, der mir passend erscheint.

In Oviedo beginnt der Camino Primitivo. Wer hier den Abzweig verpasst, landet in Gijon, auf dem Camino del Norte.


Beim Aufbruch aus Oviedo habe ich einen schönen Blick auf die Berge. Am Nachmittag komme ich zu einer Herberge mit Restaurant, Bar und Swimmingpool. Ich bin noch unentschlossen, ob ich dort bleibe oder weiter gehe. Ich mag dieses Nichtwissen, das Unentschlossensein. Es gibt mir ein Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmtheit. Ich bestelle zunächst das Pilgermenü und beschließe dann zu bleiben. Am Abend hänge ich mit meinen Mitpilgern am Pool ab.

Am nächsten Morgen fühle ich mich kraftlos und schleppe mich dahin. Die Landschaft ist etwas schöner als am Vortag, aber ich verstehe nicht, warum der Camino Primitivo so gelobt wird. Gegen Mittag komme in einem kleinen Dorf, San Marcelo, an einer Spendenherberge vorbei, die sehr nett aussieht. Ich gehe hinein und frage, ob es Platz für mich gibt. Gibt es. Ich kann bleiben und kippe sofort ins Bett. Als ich nach ein paar Stunden aufwache, geht es mir besser. Es gibt dort absolut nichts zu tun und das ist auch gut so. Es gibt dort insgesamt vier Betten. Zwei von ihnen bleiben leer, so dass ich einen wirklich ruhigen Abend und eine erholsame Nacht habe.

Am nächsten Morgen fühle ich mich fit und breche früh auf. Auch heute weiß ich nicht, wohin und wie weit ich gehe. Als "Minimalziel" habe ich mir 17 km bis nach Salas vorgenommen. Dort schaue ich, was mein Körper sagt. In Salas habe ich noch Energie und gehe weiter. Diese Etappe ist wiederum etwas schöner als die vom Vortag. Hinter Salas lerne ich Juan aus Malaga kennen. Zusammen bewältigen wir eine lange Steigung. Die nächste Übernachtungsmöglichkeit ist nach 25 km im kleinen Dorf Bodenaya. Juan bleibt dort, aber mich zieht es immer noch weiter. Im nächsten Ort mag ich auch nicht bleiben. Schließlich werden es über 27 km an dem Tag und ich fühle mich gut dabei. Ich komme in einem Dorf an, das auf ca. 700m Höhe liegt. Die Luft ist frisch. Die Herberge hat eine freundliche, giggelnde Wirtin und bietet Halbpension für 20€ an.

Am nächsten Morgen bin ich als erste auf den Beinen. Diese Etappe ist wiederum schöner als die vorige. Der Camino Primitivo zeigt allmählich, was er zu bieten hat. Diese Etappe führt mich wieder in eine Spendenherberge. Nach dem Abendessen erklärt uns der Wirt die Besonderheiten der nächsten Etappe. Es handelt sich um die berühmteste Etappe auf dem Camino Primitivo. Man geht 24km über die Berge ohne irgendein Dorf. Man muss Essen und Wasser für den ganzen Tag mitnehmen. Es ist die Ruta de los Hospitales. Im Mittelalter standen dort mehrere Pilgerherbergen, daher hat sie ihren Namen.

Dann der Tag mit der Etappe, auf die ich mich seit hunderten von Kilometern freue, der Ruta de los Hospitales. Aber es ist neblig. Ich überlege zunächst, vielleicht diesen Tag in der Herberge auszusitzen und am nächsten Tag zu gehen, aber der Strom meiner aufbrechenden Mitpilger zieht mich mit. Der Nebel erzeugt eine ganz eigene Stimmung. Ich gehe die ersten Stunden allein ohne jemals allein zu sein. Vor mir und hinter mir sind immer Leute. Währenddessen reißt die Wolkendecke auf und wir bekommen endlich doch noch spektakuläre Aussichten.

Der Tag auf der Etappe, auf die ich mich am meisten gefreut habe - der Ruta de los Hospitales - beginnt im Nebel. 24 km ohne jegliche Infrastruktur liegen vor mir.


Zum Glück kann in den Bergen das Wetter schnell umschlagen. Wir sind auf ca. 1300 m Höhe und wandern auf einem Kamm entlang.


Auf der Ruta de los Hospitales.


Die Sonne kommt raus und der Blick in die Weite wird frei.





Die erste Übernachtungsmöglichkeit am Ende der Ruta de los Hospitales ist in Berducedo. Gleich am Eingang des Dorfes gibt es eine öffentliche Herberge. Sechs Plätze sind noch frei. Ich bleibe dort. Nach meiner Abendroutine will ich im Dorfladen einkaufen, komme aber nur bis zur nächsten Bar. Dort sitzen Laetitia und ihre „Camino-Family“. Sie laden mich in ihrer Herberge zum Essen ein. Die beiden Italiener der Gruppe machen Pasta. Beim Essen finden wir heraus, dass Laetitia und ich uns bereits in der Herberge von Dédé auf dem GR10 getroffen haben, als ich dort ausgeholfen habe. Es war mein erster Abend dort und sie saßen am anderen Ende des Tisches und haben uns deshalb nicht persönlich kennen gelernt. Wie schön, dass sich unsere Wege wieder gekreuzt haben!

Die darauf folgende Etappe ist mindestens genauso schön wie die Ruta de los Hospitales. Nach einem gemütlichen Aufstieg bis nach La Mesa folgt ein langer, sanfter Abstieg. Dabei hat man grandiose Aussichten auf einen Stausee und die weite Landschaft. Ich breite die Arme aus und fühle den Wind auf der Haut. Mit leichten Schritten fliege ich auf das Tal zu. Ich kenne jetzt die meisten Menschen, die auf dem Camino Primitivo unterwegs sind. Die Gemeinschaft der Pilger wächst zusammen, je näher wir Santiago kommen. Dies ist einer meiner glücklichsten Tage auf dem gesamten Camino.

Zwischen Berducedo und Grandas de Salime. Es ist eine grandiose Etappe voller Leichtigkeit und Weite.



Der Zusammenhalt unter den Pilgern wächst, je näher wir Santiago kommen.
Jemand hat dem Pilger auf dem Wegweiser Flügel gemalt. Der Abstieg nach Grandas de Salime fühlt sich tatsächlich wie fliegen an.


Woche 14: Grandas de Salime – Santa Irene
Als ich in der Herberge in Grandas de Salime die Augen öffne, sind die meisten Betten schon leer. Nicht, dass ich gut geschlafen hätte - im Gegenteil: Ich war unruhig. Gegen Morgen bin ich dann so erschöpft, dass mich das Rascheln meiner Mitpilger nicht weckt. Ich frühstücke in der Bar des Dorfes und mache mich dann auf den Weg zu einer weiteren wunderschönen Etappe vor an Kühen und mit weiten Aussichten auf die Berge.

Ich habe kein bestimmtes Ziel für diesen Tag. Es sind 25km bis Fonsagrada, aber ich kann mir vorstellen noch weiter zu gehen und zu campen. Ich bin weitestgehend allein unterwegs und treffe erst am frühen Nachmittag auf Laetitia und Victoria. Wir gehen zusammen bis Fonsagrada und reden über das Fernwandern, warum wir diesen Weg gehen und was wir uns für die Zeit hinterher erhoffen.

In Fonsagrada trennen sich unsere Wege erstmal, denn Laetitia wartet auf ihre „Camino-Familie“. So nenne ich Laetitia und ihre Freunde. Sie sind wie ich ebenfalls in Le Puy losgegangen und haben schon einiges erlebt. Ich entscheide mich fürs Campen und kaufe zunächst im Supermarkt Vorräte für den Abend und den nächsten Tag. Dann gehe ich in die öffentliche Herberge um zu duschen und mein Handy aufzuladen. Genau in dem Moment, in dem ich abmarschbereit für eine kurze Abendetappe vor die Tür trete, treffe ich die „Camino-Familie“. Es gibt 3km weiter noch eine Herberge zu der sie gehen. Dort kann man wohl auch zelten. Es ist bereits 18 Uhr als wir Fonsagrada wie ein Schwarm Wandervögel verlassen. 

Ich habe diese langen Tage lieben gelernt. Das Ankommen spielt keine Rolle mehr, nur das tägliche Unterwegssein. Tatsächlich kann ich vor der Herberge zelten und muss nicht mal dafür bezahlen. 32km sind es an diesem Tag geworden, die ich wegen einer Blase überwiegend in Sandalen laufe. Ich habe unterwegs schon gemerkt, dass meine Füße das nicht gewohnt sind, aber um die Blase zu heilen, habe ich meine Wanderschuhe trotzdem nicht angezogen. Statt meine Füße langsam an das Wandern in Sandalen zu gewöhnen, habe ihn ihnen gleich meine längste Etappe auf dem Jakobsweg zugemutet und sie damit überlastet. Am Abend spüre ich nur ein leichtes Unbehagen und müde Knochen. Nach einem gemeinsamen Abendessen mit Laetitia und ihren Freunden verschwinde ich im Zelt und habe eine ruhige Nacht mit klarer, kühler Luft.

Die Quittung bekomme ich am nächsten Tag. Ich habe große Schmerzen im linken Fußrücken und es knirscht widerlich. Ich gehe fast 23km unter Schmerzen bis O Cadavo und bleibe in der öffentlichen  Herberge am Ortseingang, wo ich campen kann. Ich habe genug von stickigen, mückenverseuchten Schlafsälen. In meinem Zelt schlafe ich mittlerweile besser. Mir geht es nicht gut. Ich nehme eine Schmerztablette und lege mich um 20:00 Uhr schlafen. Einen Pausentag, den ich jetzt wirklich brauche, habe ich immer noch nicht gemacht und so kurz vor Santiago bringe ich das nicht fertig. Einerseits sind da so viele nette Menschen, die sich täglich weiter bewegen. Wenn ich jetzt einen Pausentag mache, werde ich den Anschluss verlieren. Ich habe aber in Frankreich schon zu viele Menschen ziehen lassen müssen. Dann ist da der Sog, den Santiago hier bereits ausübt. Es sind noch ca. 130km. Ich kann jetzt einfach nicht stehen bleiben. Aber gehen kann ich so auch nicht.

Auf dem Weg nach O Cadavo.


Am folgenden Tag erwartet mich eine Etappe von 30km nach Lugo. Unmöglich mit diesen Schmerzen. Daher helfe ich ein paar Kilometer mit dem Bus nach und bin so zur richtigen Zeit am richtigen Ort um eine meiner magischsten Begegnungen zu machen: Während ich mich auf einem Stein ausruhe, kommt ein Paar vorbei. Ich sehe zwei mal hin und erkenne sie gleich: Wir haben uns im April im kalten Aubrac kennengelernt. Ich erinnere mich an die beiden als eine Begegnung in einer Bar, in der ich mich aufgewärmt habe. Dieser Ort liegt gut 1400km hinter uns und 3 Monate sind seitdem vergangen. Kaum zu glauben, dass sich unsere Wege hier wieder treffen. - die Zeit, die Entfernung, meine Mini-Etappen und Verletzungspausen. Trotzdem begegnen wir uns hier wieder. Es war damals ein sehr nettes Gespräch und sie haben mir einen Übernachtungstipp für Santiago gegeben. Seit ein paar Tagen versuche ich, mich ihren Hinweis zu erinnern und wünsche mir, ich könnte die beiden noch einmal fragen. Jetzt stehen sie vor mir, bzw. Ich laufe auf sie zu und rufe völlig perplex: "Ich kenne euch! Ich kenne euch!" Sie können sich nicht an mein Gesicht erinnern und auch meine Erinnerung an sie ist in diesem Moment bruchstückhaft. Ich krame in meinem Gedächtnis und gebe ihnen Hinweise. Dann erinnern sie sich langsam. Sie heißen Anne und Michel. Der Moment für unser Wiedersehen könnte kaum besser sein, denn dies ist nicht irgendeine Etappe. Sie führt nach Lugo über die 100km-Marke. Das fühlt sich nach ca. 1400 km an wie ein Countdown. Ab dann brauche ich täglich zwei Stempel in meinem Pilgerausweis, damit ich meine Pilgerurkunde, die Compostela bekomme. Diesen wichtigen Punkt erreichen Anne, Michel und ich zusammen. Wir machen viele Fotos am 100km-Stein und an dem von der Stadt Lugo dafür aufgestellten Denkmal. Gleich dort ist ihr Hotel. Sie werden nach Lugo eine Variante des Jakobswegs gehen und kommen voraussichtlich einen Tag nach mir in Santiago an. Auch dabei wird der der Jakobsweg noch eine Überraschung parat haben, was ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß.

Noch 100 km bis nach Santiago!

Ich gehe in Lugo in die öffentliche Herberge. Dort treffen nach und nach alle meine Camino-Freunde ein und ich erzähle ihnen von Anne und Michel. Durch die Schmerzen bin ich sehr erschöpft und ruhebedürftig. Ich lege mich um 21:00 Uhr schlafen, aber im Schlafsaal geht das Deckenlicht an. Einen Schalter finde ich nicht. An der Rezeption wird mir gesagt, dass es um 22:30 Uhr ausgeht und es keine Möglichkeit gibt, es vorher auszuschalten.

Die nächste Etappe führt nach Ferreira. Das sind 27km und ich habe keine Ahnung, ob mein Fuß das hergibt. Er fühlt sich etwas besser an, schmerzt aber noch sehr. Diese wie auch die nächsten Etappen können kommen an die Schönheit der vorherigen Etappen nicht ran. Die Landschaft ist immer noch schön, aber ich bin verwöhnt. Die letzten 5 km sind eine Qual, aber mein Fuß trägt mich bis an den Ortseingang von Ferreira. Dort gibt es eine Herberge, vor der ich campen kann. Dort ist Laetitia mit ihrer Camino-Familie, sowie andere vertraute Gesichter. Ich freue mich, dass sie alle dort sind. 

Ich bin so wahnsinnig erschöpft und brauche noch einmal eine lange Nacht mit ausreichend Schlaf. Der Check-In gestaltet sich als kompliziert. Ich spreche passables Spanisch mit dem Herbergsbetreiber. Aber anstatt mir einfach zu antworten, nimmt er sein Handy, tippt die Antwort ein und lässt sie dann vom Google-Übersetzer auf Deutsch vorlesen. Zuerst amüsiert es mich für einen Moment. Doch dann bitte ich ihn, mit mir zu reden. Das tut er aber nicht. Ich frage ihn, ob er stumm wäre oder Probleme zu reden habe, was er verneint. Jetzt bin ich wirklich genervt und vor Erschöpfung den Tränen nahe. Er entschuldigt sich und wir beenden das Gespräch.

Am nächsten Tag geht es meinem Fuß etwas besser. Ich denke, dass ich die ca. 23km nach Melide schaffen kann. Der Jakobsweg ist seit Lugo ein anderer. Er ist voller und ich kenne viel weniger Leute als zuvor. Die Leuten haben winzige Rucksäcke, weil sie ihr Gepäck transportieren lassen. Unter ihnen sind viele Gruppen von Jugendlichen. Die Familiarität der vorherigen Etappen verliert sich immer mehr, je näher wir Santiago kommen.

Als ich nach Melide komme, entscheide ich, dass ich nicht schon wieder einer nervenden Herberge schlafen werde. Ich möchte lieber campen. Kurz nach dem Ausgang des Dorfs finde ich einen Platz auf einer Wiese. Ich baue mein Zelt auf, richte mich ein und habe eine ruhige, friedliche Nacht.

Am folgenden Tag führt uns unser Jakobsweg in Arzúa auf den Camino Frances. Viele von uns waren vorher etwas nervös, ob dann die Wanderung einem Volksfest gleicht. Dem ist aber nicht so. Es sind zwar mehr Menschen unterwegs, aber es ist nicht so schlimm wie befürchtet. Ich entscheide mich für eine Herberge in Santa Irene, ca. 3km vor O Pedrouzo, bzw. 22km vor Santiago. 30km zeigt meine App für diesen Tag. Meinem Fuß geht es viel besser. Trotzdem beschließe ich den Tag in diesem Ort, statt noch 20 Minuten weiter zu gehen. Meine Wahl ist schlecht. Die Herberge liegt an einer vielbefahrenen Hauptstraße. Aber nach 30km finde ich, dass es reicht. Nachdem sich mein Fuß gerade wieder erholt, möchte ich es nicht herausfordern.

Wie schlecht meine Wahl ist, zeigt sich in der Nacht. Als sich alle schlafen legen, schließt jemand alle Fenster. In dem Schlafsaal liegen ca. 10-15 Personen, die atmen und dazu noch ihre verschwitzten Wanderklamotten aufgehängt haben. Als es stickig wird, öffne ich das Fenster wieder. Nach einer Zeit schließt es wieder jemand. Verständlich, denn die Autos sind schon sehr laut. Mir ist heiß und ich kann kaum atmen. In der Nacht öffne ich es wieder. Aber auch mir ist es trotz Oropax zu laut. Ich schlafe also entweder nicht, weil es stickig ist oder weil es zu laut ist. Mal wieder bereue ich es, mich für eine Herberge entschieden zu haben.

 

Woche 15: Santiago
Nach einer unruhigen Nacht in einer Herberge in Santa Irene klingelt um 4:30 Uhr ein Wecker, aber niemand steht auf. Ich stehe dann um 05:30 Uhr auf und gehe im Dunkeln los.  Dies ist mein Ankunftstag in Santiago. Es fühlt sich unwirklich an. So lange bin ich auf disen Tag und diesen Ort zugelaufen. Jetzt ist es soweit. 22km liegen vor mir und ich würde gern so früh wie möglich ankommen. Santiago zieht – und nicht nur mich. Für alle, die ich an diesem Tag sehe, ist es ein besonderer Tag.
Ich laufe irgendwann Juan über den Weg. So schnell habe ich ihn noch nie gehen sehen. Zum ersten Mal hält er sich nicht auf, sondern hat es eilig. Auch ich halte meine Pausen kurz. Am späten Vormittag komme ich an einem Campingplatz mit Bar vorbei, wo ich kurz anhalte. Als ich mich umschaue, überrascht mich der Camino mal wieder: Anne und Michel sind dort. Sie mussten ihre Pläne ändern und kommen deshalb schon heute in Santiago an. Was für ein Geschenk! So schließt sich ein Kreis. Wir haben uns gemeinsam auf den Weg gemacht, sind über die 100km-Marke gelaufen und werden zusammen in Santiago eintreffen. Den Rest des Weges gehen wir zusammen. Ich bin so dankbar, dass ich dieses wichtige Ereignis mit ihnen teilen kann. Nach ein paar Kilometern erreichen wir den "Berg der Freude". Warum er so heißt, wird klar, als Michel mich an den richtigen Platz führt: Von dort sehe ich zum ersten Mal Santiago und die Kathedrale. Vorher vor Santiago nur ein Wort für mich, ein Ortsname auf vielen Schildern. Jetzt kann ich die Stadt zum ersten wirklich mit eigenen Augen sehen. Ich werde nach alle den Mühen in Santiago ankommen. Der Gedanke überwältigt mich und damit auch die Freude. Zum Glück sind Anne und Michel da und ich bin in diesem wichtigen Moment nicht allein. Der Camino hat es mal wieder gut für mich geregelt.

5 km vorm Ziel, am Ortseingang von Santiago halten wir noch einmal zum Essen an. Dann geht es weiter. 3km – dann beruhigt sich der Verkehr – wir betreten die Altstadt – die Gassen werden enger – wir kommen in die Fußgängerzone - dann erkenne ich den Torbogen, der zum Platz vor der Kathedrale führt und höre den Dudelsackspieler, der dort ankommende PIlger begrüßt. Es sind nur noch wenige Meter. Ich gehe durch den Torbogen, sehe schon einen Teil des Platzes, gehe am Dudelsackspieler vorbei und dann, dann stehe ich auf dem Platz vor der Kathedrale. Ich bin angekommen. Vier Monate, 1500km, eine Sehnenentzündung und harte Geduldsproben haben mich von diesem Ort getrennt. Jetzt bin ich da. Wir umarmen und gratulieren uns. Wir legen unsere Rucksäcke ab und lassen diesen Moment lange auf uns wirken bevor wie die üblichen Fotos machen.

Auf dem Platz sind noch andere meiner Mitpilger, die einfach schauen, wer noch ankommt. Wir gehen etwas trinken und dann bin ich von all den Emotionen so erschöpft, dass ich meine Herberge aufsuche. Ich bin im Seminario Menor untergebracht. Für 25Euro habe ich dort ein Einzelzimmer. Es ist die größte Pilgerherberge, die ich auf dem gesamten Jakobsweg gesehen habe. Die Flure und Gänge erscheinen endlos. Ich freue mich über mein kleines Zimmerchen. Dennoch treffe ich in der riesigen Herberge vertraute Gesichter. Ich bin es nicht mehr gewohnt, so viele Menschen um mich zu haben, die ich nicht kenne und fühle mich in Santiago ein wenig verloren und überfordert von dem Trubel.
Die Tage nach meiner Ankunft sind vollgepackt mit vielen Verabredungen und noch mehr Tränen der Freude und Erleichterung. Ich möchte alle noch einmal sehen. Zunächst gehe ich ins Pilgerbüro und hole mir meine Compostela ab. Mit dieser Urkunde wird bestätigt, dass ich den Jakobsweg zurückgelegt habe. Neben den geplanten Verabredungen laufe ich immer wieder anderen bekannten Pilgern über den Weg. Wie wunderbar, sie noch einmal hier zu treffen!
Abends gehen wir in die Pilgermesse. Gerüchten zufolge soll das große Weihrauchfass, der Botafumeiro zum Einsatz kommen. Wir bekommen gute Plätze mit Blick auf den Altar. Um den Botafumeiro jedoch richtig zu sehen, sollte man sich jedoch lieber ins Querschiff setzen.

Meine Weiterreise muss ich um einen Tag verschieben, denn ich sitze in einem Energieloch. Ich bin so erschöpft! - Zum Glück, denn sonst wäre mir eine weitere "magische" Begegnung entgangen: Von jemandem im Pilgerbüro habe ich erfahren, dass in der 12:00 Uhr-Messe ganz sicher der Botafumeiro zum Einsatz kommen wird. Ich bin so erschöpft, dass ich für alles lange brauche. Schließlich bin ich erst um 11:00 Uhr in der Kathedrale, was recht spät ist. Die Bänke in den Seitenschiffen sind voll besetzt, aber ich probiere mein Glück und fange in der ersten Bank zu fragen an, ob es einen freien Platz gibt. Leider nein. Dann winkt mich eine Frau aufgeregt zu sich ran und sagt erstaunt: „Ja, ja aber du bist doch die Katrin!“ Ich erkenne sie erst nicht und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: „Oh… und du bist die Judith!!!“ Das ist Judith, die ich vor Wochen in Navarrenx kurz in einem Café getroffen habe! Damals habe ich ihr erzählt, dass meine Reise in Saint Jean Pied de Port wegen meiner Sehnenentzündung vorbei sein wird. Sie hat meine Geschichte sehr berührt. Sie hat ihren Weg fortgesetzt in dem Glauben, ich sei nach Hause gefahren. Was für eine Überraschung, dass wir uns jetzt in der Kathedrale von Santiago wiedersehen! So ein wunderbarer Zufall! Wir sind beide zu Tränen gerührt. Ich bin dennoch etwas im Druck, mir schnell einen Sitzplatz zu suchen. Wir tauschen schnell Nummern aus, um uns nicht wieder zu verlieren. Als ich weitersuche, winkt mich jemand anderes zu sich heran. Er kennt mich auch. Zu Beginn des Camino Primitivo sind wir uns ein paar Mal über den Weg gelaufen. Er hatte seine Sonnenbrille verloren und mich gefragt, ob ich sie gesehen habe. Neben ihm ist ein Platz frei. So erlebe ich den Botafumeiro noch von der „richtigen“ Seite.

Woche 16: Fisterra: Bis ans Ende der Welt und zurück
In Santiago ist meine Reise noch nicht vorbei. Man kann den Weg noch 80-90 km fortsetzen bis nach Fisterra am Atlantik. Die Römer haben diesem Ort seinen Namen gegeben („Finis terre“), der „Ende der Welt“ bedeutet, denn für die Römer hörte dort ihre Welt auf. Ich möchte für meine Reise einen guten Abschluss finden, was für mich heißt, noch diese Verlängerung des Jakobswegs bis zum Atlantik zu gehen, mich dort umzudrehen und ein paar Kilometer in die andere Richtung zu laufen. Das, was dann vor mir liegt, wird mein zu Hause sein. Während ich im Geiste in den letzten Monaten auf Santiago und Fisterra zugelaufen bin, wird meine Geist dann auf zu Hause ausgerichtet sein. Für mich ist wichtig, nicht zu schnell nach Hause zu kommen, sondern mich an diesen Gedanken etwas zu gewöhnen und mich dabei auf das einzustimmen, was dann kommen mag.

Beim Aufbruch aus Santiago muss all meine restliche Energie zusammen nehmen. Es waren sehr aufwühlende Tage. Schlapp schlurfe ich durch die Straßen von Santiago. Dann komme ich bald durch einen Eukalyptuswald und steige auf einen Hügel. Von dort sehe ich die Kathedrale aus der Ferne. Der Ort, auf den ich monatelang zugelaufen bin, liegt jetzt hinter mir. Ich bin so dankbar, dass ich das letztendlich geschafft habe.

Doch das Ziel, das vor mir liegt, entwickelt auch Zugkraft. Weiter als bis Fisterra kann man wirklich nicht gehen. Dort ist der Jakobsweg definitiv zu Ende. Zumindest der physische Teil. Wer weiß, wie sich der innere Weg fortsetzt?

Diese erste Etappe meines „Epilogs“, wie ich diesen Teil der Reise nenne, führt mich bis nach Negreira. Man geht durch Eukalyptuswälder und vorbei an Feldern. Ich bin immer noch aufgewühlt vor Freude, Erleichterung, Stolz und Dankbarkeit. Die schönen und die schwierigen Erlebnisse klingen noch nach. Und da ist auch Sorge: Wie wird es sein, wieder nach Hause zu kommen? Kann ich nach dem Erlebten einfach so in mein altes Leben zurückkehren? Will ich das überhaupt?

In Negreira übernachte ich in der öffentlichen Herberge – eine Idee, die ich mal wieder bereue, denn Mücken lassen mich nicht schlafen. Ich habe jetzt endgültig genug von Herbergen und beschließe, dass ich jetzt nur noch campen werde. Diese Entscheidung hilft mir, noch mehr loszulassen, nämlich auch noch die letzten Ängste und Sorgen, die ich noch habe. Ich habe längst viele Vorstellungen, wie Dinge zu sein haben, abgelegt. Sie hilft mir, alle Strukturen hinter mir zu lassen und lässt mich große Freiheit fühlen. Das macht diese letzten Tage meiner Reise umso wertvoller.

Trotz der unruhigen Nacht geht es mir am nächsten Morgen besser als am Vortag. Ich habe wieder Energie und die Beine laufen von allein. Um 07:00 Uhr bin ich eine der letzten, die die Herberge verlassen. Die Landschaft wird etwas hügliger. Ich mag die weiten Blicke. Die äußere Weite spiegelt wieder, was ich auch in mir fühle: Freiheit und Weite. Kurz vor Olveiroa gibt es eine Art Campingplatz, auf dem ich bleibe. Es ist eher wie eine Bar mit zwei Stellplätzen für Zelte. Dort bin ich der einzige Gast, obwohl Hochsaison ist. Es ist, als wäre ich einer der letzten Menschen auf Erden. 31 Kilometer sind es an diesem Tag geworden und ich bin weder erschöpft, noch habe ich Schmerzen. Mein Körper macht inzwischen alles mit. Das verstärkt das Gefühl der Freiheit noch: Da ich ein Zelt habe, kann ich überall schlafen und ich weiß, dass meine Beine mich tragen werden.

Die darauffolgende Etappe ist eine der schönsten für mich. Die grünen Hügel werden höher und halten meinen Blick in der Ferne fest ohne ihn zu verstellen. Schließlich kommt der Atlantik in Sichtweite und Fisterra, wo meine Reise enden wird. Von Herbergen habe ich jetzt wirklich genug und möchte weder in noch neben einer Herberge zelten. So suche mir an diesem Abend einen Platz im Wald. Dafür muss ich eine Weile suchen und gehe an großen gerodeten, trostlosen Waldflächen vorbei. Sie sind zerfurcht wie ein Schlachtfeld. Ich muss lange suchen und bin kurz vorm Aufgeben. Doch finde ich in einem Waldstück eine Lichtung und habe Glück: Es ist eine Sackgasse. Niemand wird hier vorbei kommen. Der Boden ist frei von stachligen Himbeer- und Ginstergewächsen, die in dieser Gegend überall über den Boden kriechen und meine Luftmatratze durchstechen können. Dort baue ich mein Zelt auf. Es ist ein friedlicher Ort, an dem ich Grillen zirpen und der Wind in den Blättern rauscht. Der Wald duftet nach Eukalyptus. Ameisen krabbeln auf mein Zelt. Überall um mich herum ist Leben. Ich sauge jeden Moment auf und möchte mir einen innerlichen Vorrat anlegen für die Zeit, in der ich wieder den ganzen Tag lang auf meinen Bildschirm glotze und von vier Wänden eingesperrt bin. Dieser Abend auf der Lichtung im Eukalyptuswald ist eine der intensivsten Erfahrungen der Reise. Ich fühle frei, lebendig, dankbar und verbunden.


Am folgenden Morgen kommt schon die Etappe, die mich nach Fisterra führt. Der Weg geht immer wieder vorbei an Buchten und Stränden. Schon am frühen Nachmittag bin ich im Ort Fisterra. In einer Bar lade ich mein Handy. Dann mache ich mich auf den Weg auf die vorgelagerte Halbinsel mit dem Leuchtturm. An dem Leuchtturm ist der Kilometer 0 des Jakobswegs. Dort will ich mir einen Schlafplatz für die Nacht suchen und Judith treffen. Ich muss lange suchen, aber ich finde keinen Platz, der geschützt genug ist. Letztendlich will ich aufgeben und gehe bereits zurück Richtung Ort als ich doch noch einen geeigneten Platz finde.

Nachdem das erledigt ist, treffe ich Judith am Leuchtturm. Es ist kurz vor Sonnenuntergang. Wir lassen unsere Reise Revue passieren und ziehen Bilanz.  Wir beide finden: Diese Wanderung hat uns mehr Vertrauen in uns selbst und ins Leben gegeben. Wir haben Schwierigkeiten überwunden, sind all diese Kilometer gelaufen, Menschen haben uns ohne eigenen Vorteil geholfen – etwas muss also grundsätzlich richtig sein. – Ein Gedanke, der im Alltag zu oft verloren geht. Fernwandern hat das Potenzial in jedem Menschen das Beste zum Vorschein zu bringen.
Ich bin dankbar, dass ich meine Reise mit Judith abschließen kann. Ich könnte mir kaum jemand passenderes an meiner Seite für so einen wichtigen Abend vorstellen. Sie ist von zu Hause losgelaufen, durch die Schweiz und dann die Via Gebennensis, so wie ich, nur dass ich diese Teile in Etappen gelaufen bin. Mit diesem Abend in Fisterra wird mein Jakobsweg enden und es erscheint mir sehr passend ihn mit Judith zu verbringen. Der Jakobsweg hat es – mal wieder – gut für mich eingerichtet. Dann verabschieden Judith und ich uns. Sie wird noch von Fisterra noch weiter nach Muxia gehen und ich trete am nächsten Tag die Rückreise an. Es ist mittlerweile dunkel geworden und so mache mich mir nicht mehr die Mühe, mein Zelt abseits des Wegs zu verstecken.

Am nächsten Morgen beginnt die Heimreise. Zunächst begebe ich mich zu Fuß zurück nach Olvreiroa. Zum ersten Mal sehe ich die gleichen Orte ein zweites Mal. – Nachdem ich vier Monate lang mit jedem Kilometer neue Orte gesehen habe, ist das eine neue Erfahrung. Auch meine innere Ausrichtung ist jetzt eine andere: Fisterra, der Kilometer 0, liegt jetzt hinter mir und vor mir liegt zu Hause. Zu Fuß mache ich mich auf den Rückweg, verbringe noch eine letzte Nacht im Wald und bin am nächsten Tag zurück in Santiago.

Dann geht alles ganz schnell: Mit dem Bus nach Bordeaux, von dort mit dem Zug nach Strasbourg. Um das Tempo etwas bremsen, gehe ich von Strasbourg zu Fuß über die deutsche Grenze nach Kehl. Es fühlt sich nicht an, als würde ich zurückkehren, sondern eher, als würde ich zu einer neuen Etappe aufbrechen, so wie jeden Tag auf dem Jakobsweg. Nur führt diese Etappe mich jetzt nach Hause. Ich kann nicht glauben, dass ich nicht mehr täglich neue Orte sehen werde und nicht mehr täglich wandern werde. Die Reise auf dem Jakobsweg endet, aber wie wird die innere Reise wohl weiter gehen? Was nehme ich mit aus dieser bewegten Zeit? Was trägt mich weiter, was verblasst irgendwann?

Die Zeit danach: Was bleibt?
Die Zeit nach dem Jakobsweg ist tatsächlich noch einmal eine eigene „Etappe“. Als ich nach Hause komme, schaue ich mich in meiner Wohnung um: Alles da, alles ist an seinem Platz. Schaue aus allen Fenstern und finde die Aussicht auf die schwäbische Alb immer noch so schön wie früher. „Gut, ich habe es mal wiedergesehen. Alles ok. Wo gehe ich jetzt hin?“ – denke ich mir.
Bis ich wieder arbeite, habe ich noch etwas Zeit. Ich mache ausgedehnte Tageswanderungen, sehe Freunde und besuche Orte, die ich gern mag. Eine meiner Tagestouren führt auch ein Stück auf einem Jakobswege in meiner Nähe entlang. Ich weiß jetzt von hier bis zum Atlantik – mit Ausnahme von ein paar Lücken – wie der Weg unter meinen Füßen bis zum Ende weiter geht. Es ist, als hätte ich einen unheimlich dicken Roman von Anfang bis Ende durchgelesen. Diese unheimlich große Neugier, die mich Etappe für Etappe vorangetrieben hat, ist befriedigt.

Das Gefühl der Weite, das ich vom Jakobsweg mitgebracht habe, hält noch eine Weile an. Dann beginnt es zu verblassen. Täglich in den gleichen vier Wänden zu sein, fällt mir schwer. Es kommt mir nicht normal vor, obwohl es das ist, was „man“ eben tut. Oft habe ich ein Gefühl von Enge in der Brust. Es hilft mir, über meine Reise zu schreiben und davon zu erzählen. Dabei erlebe ich alle noch einmal und all die Gefühle kehren zurück. Was bleibt ist, dass ich eine andere Perspektive auf das Leben gewonnen habe und dieser Eindruck ist tief. Ich habe tiefes Vertrauen ins Leben gewonnen und ich habe gelernt, dass ich auch mit Mini-Etappen ein großes Ziel erreichen kann. Ich brauche auch nicht mehr das Gefühl, alles im Griff zu haben und mein Leben zu kontrollieren. Ich werde weiterhin planen (müssen), aber ich werde nicht mehr so an meinen Plänen hängen. Das Leben macht am Ende, was es will und das kann es viel besser, als ich es je planen könnte.