Wie ich zur "Landstreicherin" wurde
Eigentlich hatte mich Wandern nie so richtig interessiert. Ich fand es zu lahm, zu langweilig, zu anstrengend. Auch der Jakobsweg stand lange nicht auf meiner Wunschliste.
Heute kann ich gar nicht genug von langen, langen Wanderungen bekommen.
Im Folgenden erfährst du, wie ich zum Fernwandern kam.
Mal nur in eine Richtung gehen
Ich wohne schon lange in Stuttgart, während ein Teil meiner Familie in Berlin wohnt. 2018 unternahm ich den Versuch eines Neustarts in der Hauptstadt, ohne meine Wohnung in Stuttgart aufzugeben. Ich versuchte ernsthaft, mit dem rauen Berlin warm zu werden, wollte dort bei meiner Familie sein, vermisste aber gleichzeitig Süddeutschland.
Ich war hin- und hergerissen und konnte mich einfach nicht entscheiden. Kopf und Bauch stritten fast ununterbrochen miteinander. Es war zum Verzweifeln. Bei einem meiner „Heimatbesuche“ im Ländle saß ich ratlos in der Küche meiner Freunde Eva und Jens und erzählte von meiner Zerrissenheit. Beide waren ein paar Monate vorher den Jakobsweg gegangen und von dieser Erfahrung noch sehr beeindruckt. Während ich laut hin und her überlegte, sagte Jens, der Mann meiner Freundin Eva, eher beiläufig: „Geh doch mal den Jakobsweg, da geht man nur in eine Richtung“.
Dieser Satz setzte sich in einer Ecke meines Kopfes fest. Es war noch kein Plan. Vielmehr hatte er einen Samen gesät, der etwas später langsam zu keimen begann.
Entschleunigung im Lockdown
Halb zufällig, halb absichtlich landete ich dann im Mai 2020 aus beruflichen Gründen doch wieder in Stuttgart. Eigentlich sollte es nur vorübergehend sein. Berlin hatte ich deshalb nicht ganz hinter mir gelassen. Ich wohnte eine Zeitlang an beiden Orten und blieb zerrissen. Das war zu Beginn der Pandemie und der endlosen Serie an Lockdowns. Ich freute mich, wieder in Süddeutschland zu sein. Ich erlebe Stuttgart und seine Umgebung als sehr grün. Es gibt Streuobstwiesen im Stadtgebiet, schöne Aussichten an vielen Stellen und man ist sehr schnell im Umland. Ich wollte alte Lieblingsplätze wieder besuchen und neue kennen lernen. Wegen des Lockdowns gab es wenig anderes zu tun als zu wandern. Dazu kam, dass ich zu dieser Zeit den Lockdown als entschleunigend erlebt habe und ich das Gehen - die langsamste Art der Fortbewegung - als beruhigend und entspannend empfand.
Zurück im Ländle - Hurra!?
Also ging ich viel spazieren und unternahm Wanderungen auf dem Limesweg und dem Remstalweg. Der Limesweg ist ein Wanderweg entlang des Limes, - dem Grenzwall, den die Römer zum Schutz vor den Germanen errichteten. Der Remstalweg führt auf ca. 200 km durch das schöne Remstal. Er führt durch eine meiner Lieblingsgegenden im Stuttgarter Raum. Überall sanfte Hügel, blühende Wiesen und zwitschernde Vögel. Auf diesen Wanderungen erlebte ich intensiver, bewusster und vergaß meinen Alltag. Ein Tag in der Natur war wie ein Kurzurlaub. Es war Mai, die Natur platzte aus allen Nähten und auf meinen Wanderungen war ich mittendrin.
Ich hatte aber noch immer keine Lösung für das „Stuttgart-oder-Berlin-Problem“. Die Zerrissenheit quälte mich nach wie vor sehr. Ich hatte noch im Sinn, was Johannes mir geraten hatte, nämlich mal nur in eine Richtung zu gehen. Also fuhr ich im Juli 2020 nach Schwäbisch Hall und ging auf dem Jakobsweg, den man „Rothenburgweg“ nennt, 16 km nach Obermühle. Ich ging ihn in dem Bewusstsein, dass dieser Weg mich nach Santiago de Compostela und schließlich zum Atlantik führte, wenn ich ihn einfach immer weiter ginge. Das war entspannend. Es ging im Grunde einfach immer geradeaus. Dieser Weg verlangte keine Entscheidung. Er war einfach da. So ging ich probeweise den Weg, der sich zu meinen Füßen ausbreitete.
Anders als die anderen Wanderwege ging ich diesen Weg mit einer bestimmten inneren Haltung. Ich war aufmerksamer für das, was in mir vorging. Statt zu hadern und hin- und her zu überlegen, konnte ich meine Zerrissenheit mit Wohlwollen und Mitgefühl erleben.
Es folgten weitere Tagestouren auf dem Jakobsweg im Stuttgarter Raum. Schließlich wurde es Herbst. Da tat sich Ende 2020 eine weitere berufliche Gelegenheit in Stuttgart auf, zu der ich nicht Nein sagen konnte und wollte. Damit war klar, dass ich vorerst in Stuttgart bleiben würde. Aber wirklich entschieden hatte ich mich dennoch nicht. Ich hatte Zeit gewonnen, um weiterhin herauszufinden, was ich möchte.
„Wenn nichts mehr geht, dann geh“
Die ständige Aneinanderreihung von Lockdown, Öffnung, Restriktionen und Lockerungen ging weiter. Unter den Maßnahmen litt ich sehr stark. Es war beengend und bedrückend. Ich konnte einfach nicht mehr. Es gibt den Spruch: „Wenn nichts mehr geht, dann geh“. Und in einem Lockdown bewegt sich an sich ja nur sehr wenig. Da ich so schöne Wanderungen gemacht hatte, fragte ich mich, wie es wohl wäre, mehrere Tage am Stück zu laufen.
In der Schweiz ging es damals in Bezug auf die Pandemie etwas lockerer zu als in Deutschland. Irgendwann hielt ich es in Deutschland nicht mehr aus: Ich kaufte mir einen 34 Liter-Rucksack für Mehrtagestouren und Wanderstöcke, packte nur das Allernötigste ein und fuhr mit dem Zug 2 Stunden nach Schaffhausen, das kurz hinter der deutschen Grenze liegt. Dort bin ich auf dem Zürcher Jakobsweg einfach losgelaufen. Die Wanderung führte mich in drei kurzen Tagesetappen mit Übernachtung in Flaach und Winterthur nach Fehraltdorf. Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt in der Lage war, 3 Tage am Stück zu wandern. Aber in der Schweiz fährt fast an jeder Kuhweide regelmäßig ein Bus. Ich hätte jederzeit abbrechen und nach Hause fahren können. Das war aber nicht notwendig.
Es waren wunderbare, warme Sommertage, die viel verändert haben. Ich habe mich – im Gegensatz zum Eingesperrtsein in Deutschland – wieder als Herrin der Lage gefühlt. Es war energetisierend, befreiend und voller Leichtigkeit. In dem Bewusstsein, dass ich wirklich nur das brauchte, was in meinem Rucksack war und nicht mehr, wäre ich gern noch weiter gelaufen.
Zurück zu Hause entschied ich mich, im gleichen Sommer diese Reise fortzusetzen und auf 2 Wochen auszudehnen. So war ich einige Wochen später wieder am Endpunkt meiner kurzen "Schnuppertour", die ich in Pfäffikon (ZH) fortsetzte. Über Rapperswil und Einsiedeln erreichte ich Lungern. Dort schloss ich mich einer begleiteten Pilgerreise an. Wir gingen über Interlaken und Schwarzenburg nach Fribourg. Es war wunderbar. Täglich sahen wir schneebedeckte Berge, hörten Kühe bimmeln und liefen über satte Wiesen. Ich erlebte die Landschaft in sanften, kontinuierlichen Übergänge. Zunächst zwischen Deutschland und der Schweiz. Man läuft auf die Alpen zu und sieht sie schnell größer werden. Bald ist man mittendrin und geht durch das Berner Oberland, wo - meiner Meinung nach - die Schweiz ihr eigenes Klischee noch übertrifft. Dann begegnen einem die ersten französischen Einschläge, nehmen zu und schließlich ist man in einer sprachlich anderen Welt, in der man mit Deutsch nicht mehr weiter kommt.
Diesem Pandemiesommer 2021 folgte ein weiterer Pandemiewinter und ein weiterer Pandemiefrühling 2022. Ich hatte mich inzwischen wieder einigermaßen eingelebt in Stuttgart. Die Zerrissenheit hatte sich gelegt. Ich hatte einfach den Winter über nicht mehr darüber nachgedacht, sondern habe mich mit Skifahren abgelenkt. Statt dem Coronavirus hatte ich mir inzwischen ein Fernwandervirus eingefangen. Ich hatte Feuer gefangen und wollte diesen Weg einfach immer weiter gehen. So lief ich im Sommer 2022 die Strecke auf dem Jakobsweg von Fribourg nach Lausanne (ca. 4 Tage) und dann von Genf nach Les Arbrets in Frankreich (ca. 6 Tage). Ich habe also die Schweiz einmal durchquert. Ein Land zu Fuß zu durchqueren gibt mir das Gefühl von Kontinuität. Meinen Alltag erlebe ich dagegen oft als eher fragmentiert. An der Grenze zu Frankreich war ich fast ein wenig wehmütig. Die Durchquerung der Schweiz war so schön gewesen, dass ich sogar überlegte, einfach noch mal von vorn zu beginnen. Aber Neugier trieb mich voran.
Inspirierende Begegnungen unterwegs
Auf dem Weg von Genf nach Les Arbrets hatte ich inspirierende Begegnungen. In Yenne kam ich in einem ehemaligen Kapuzinerkloster unter. Dort traf ich Hans aus Stuttgart und Sabine und Georg aus Ulm. Sie waren von zu Hause losgegangen und wollten den ganzen Weg bis nach Santiago gehen. Ich lief auch mehrmals Piotr über den Weg. Er war in Pilsen aufgebrochen, wollte ebenfalls bis nach Santiago und schlief jede Nacht in seinem Zelt. Ich beneidete sie um die lange Zeit, die sie aufbringen konnten, und fragte mich, wie es wohl wäre, so lange unterwegs zu sein und so weit zu gehen. In Gedanken war ich noch mit ihnen unterwegs, als ich schon wieder zu Hause war. Ich wollte auch so gern so scheinbar endlos durch die Gegend ziehen - frische Wälder um mich haben, über duftende Wiesen gehen und die Begegnungen mit den anderen Pilgern erleben. Es war gar keine Frage, ob ich weiter gehen wollte, sondern nur wann und wie lange. Ein Plan musste her.
Ich sprach auch immer wieder mit Leuten darüber, wie man sich die Zeit für eine so lange Reise nehmen könnte. Ich wurde von allen Seiten ermutigt, so ein Projekt nicht auf die lange Bank zu schieben.
Ich war zudem in keiner besonders guten Verfassung. Ich wollte eine größere Aktion, um die letzten sehr anstrengenden und aufreibenden Jahre hinter mir zu lassen, Kraft zu schöpfen und nach vorn zu schauen. Ich suchte eine Zäsur, einen Neustart.
Aus Fantasieren wurde Planen. Ich überlegte, welche Jakobswege ich gern gehen würde und schätzte die Zeit, die ich für die Strecke brauchte. Schließlich bat ich um Urlaub. Ich hatte zunächst die Befürchtung, dass mir meine lange Abwesenheit als egoistischer Akt der Selbstverwirklichung ausgelegt werden würde. Zudem bedeutet sie eine Mehrbelastung für meine Kollegen. Sie müssen meine Auszeit mittragen und ich bin sehr dankbar dafür, dass sie das tun.
So wurde aus einer anfänglich schwierigen Situation und einem beiläufig daher gesagten Satz meine längste Reise überhaupt.